Behandle die Menschen so, als wären sie, was sie sein sollten und du hilfst ihnen zu werden, was sie sein können.
Johann Wolfgang von Goethe

Die Dinge sind nicht immer, wie sie scheinen

Von Paulo Coelho

Es gibt eine altbekannte Legende, deren Herkunft ich nicht feststellen kann. Sie erzählt vom Erzengel Michael, der eine Woche vor Weihnachte seine Engel bat, auf die Erde hinabzusteigen und die Menschen zu besuchen, weil er wissen wollte, ob alles für das Fest von Christi Geburt bereit sei. Paarweise wurden sie losgeschickt, immer ein älterer Engel mit einem jüngeren, damit der Erzengel sich einen umfassenden Eindruck dessen machen konnte, was in der Christenheit geschah.

Eines dieser Zweiergespanne wurde auch nach Brasilien geschickt und kam dort spät in der Nacht an. Da die beiden Engel nicht wussten, wo sie übernachte sollten, baten sie in einem der grossen Herrenhäuser, wie es sie noch heute vereinzelt in Rio de Janeiro gibt, um Herberge.

Der Herr des Hauses, ein Adliger, der wie viele in Rio kurz vor dem Bankrott stand, war ein tiefgläubiger Katholik, der die Himmelsboten sogleich an ihrem goldschimmernden Heiligenschein erkannte. Doch da er gerade eine grosse Weihnachtsfeier vorbereitete und sich bei der Dekoration nicht aufhalten lassen wollte, wies er ihnen zum Schlafen einfach einen Raum im Keller zu.

Obwohl auf den Weihnachtskarten immer Schnee zu sehen ist, fällt das Christfest in Brasilien immer in den Sommer. Im Keller, in dem die Engel übernachten sollten, herrschte eine fürchterliche Hitze, und die feuchte Luft war zum Ersticken. Die Engel legten sich auf die harte Erde. Als sie ihr Nachtgebet begannen, bemerkte der ältere Engel einen Riss in der Wand. Er erhob sich, reparierte ihn mit seinen überirdischen Fähigkeiten und betete weiter. Die beiden schmorten die ganze Nacht wie in der Hölle und bekamen fast kein Auge zu.
Trotzdem mussten sie am nächsten Morgen ihre Mission erfüllen. Sie durchstreiften die grosse Stadt mit ihren zwölf Millionen Einwohnern, mit ihren Stränden und Hügeln, ihren Gegensätzen. Sie füllten ihre Fragebögen aus, und als es wieder Nacht wurde, machten sie sich auf ins Landesinnere. Doch sie hatten die Zeitverschiebung nicht bedacht und hatten daher wieder keinen Ort zum Übernachten.
Diesmal klopften sie an die Tür einer bescheidenen Hütte. Das junge Paar, das ihnen öffnete, wusste nicht, wie Engel aussehen, und erkannte daher die beiden Pilger nicht. Sie bereiteten den beiden Engeln ein Nachtmal und zeigten ihnen ihr neugeborenes Kind. Als Schlafplatz boten sie ihnen ihr eigenes Bett an und entschuldigten sich immer wieder dafür, dass sie nicht genug Geld hätten, um sich gegen die mörderische Hitze eine Klimaanlage leisten zu können.

Als die Engel am nächsten Morgen aufwachten, fanden sie das Paar in Tränen aufgelöst vor. Ihr einziger Besitz und Lebensunterhalt, eine Kuh, lag tot auf dem Feld. Sie schämten sich, den Pilgern zum Abschied kein rechtes Frühstück bereiten zu können, da die Kuh, die ihnen sonst Milch gab, nicht mehr lebte.

Als die Engel die ungepflasterte Strasse entlang gingen, machte der jüngere Engel seiner Empörung Luft.

„Ich kann nicht begreifen, wie du dich verhalten hast! Der erste Mann hatte alles was er brauchte, und dennoch hast du ihm geholfen. Und bei diesen armen Leuten, die uns so freundlich aufgenommen haben, hast du nichts unternommen, um ihr Leid zu lindern!“
„Die Dinge sind nicht immer, wie sie scheinen“, sagte der ältere Engel. „Als wir in diesem schrecklichen Keller waren, bemerkte ich, dass auf der andern Seite der Wand viel Gold lag, das ein früherer Hauseigentümer dort versteckt hatte. Und ich beschloss es wieder zu verbergen, weil der jetzige Herr des Hauses nicht bereit war, denen zu helfen, die es brauchten.

Gestern Nacht, während wir im Bett der Eheleute schliefen, bemerkte ich plötzlich, dass noch ein dritter Gast dazu gekommen war: der Todesengel. Er war auf die Erde geschickt worden, um das Kind zu holen. Aber da ich ihn seit vielen Jahren kenne, ist es mir gelungen, ihn davon zu überzeugen, statt dem Kind der Kuh das Leben zu nehmen. Erinnere dich an den Tag der bald gefeiert wird: Ausser den Hirten wollte niemand Maria eine Herberge geben. Dafür aber sahen diese als erst den Retter der Welt.“

www.street-papaers.org/INSP. Übersetzung: Maralde Meyer-Minnemann

 

Paulo Coelho („Der Alchimist“) wurde 1947 in Rio de Janeiro, Brasilien, geboren. Sei früher Wunsch, Schriftsteller zu werden, stiess bei seinen Eltern auf Unverständnis. Als er aufbegehrte und Drogen zu konsumieren begann, schickten sie ihn mit 19 Jahren in eine psychiatrische Anstalt. Aufgrund von Songtexten wurde er später des Okkultismus verdächtigt und von der Militärdiktatur wegen angeblich subversiver Tätigkeit verhaftet und gefoltert. Als internationaler Bestsellerautor setzt er sich heute für Brasiliens unterprivilegierte Bevölkerungsschicht und andere Bedürftige ein. Coelho wurde 2007 von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zum Friedensbotschafter berufen. Seine Weltsicht ist vom Glauben an eine Weltenseele und Zahlenmystik geprägt.